Bagatellisierung

Ich kann noch immer nicht nachvollziehen, wie die Fehlbildung Lippen-Kiefer-Gaumenspalte bagatellisiert werden kann. Nicht ohne Grund gilt hier der Grad der Behinderung (GdB) von 100. Das ist der höchste. Dazu gibt es das Merkzeichen H, welches für „hilflos“ steht.

Des Weiteren hat unser Sohn sogar die Pflegestufe 3 -seit 2017 ist diese dem Pflegegrad 4 zuzuordnen.

Warum also wird diese Behinderung bagatellisiert? Sie umfasst das nicht Können bzw. weist sie große Probleme in der Nahrungsaufnahme, der Atmung, des Gehörs und später in der Lautbildung auf, von der Zahnproblematik durch die Kieferspalte mal abgesehen.

Insbesondere Nahrungsaufnahme und Atmung sind zwei so existenzielle Vorgänge, ohne die es nicht zu leben geht.

Ist das Gehör geschädigt, können sich bei einem Baby viele Dinge nicht oder nur stark verzögert entwickeln. Viel verpasstes durch zugesetzte Ohren aufgrund nicht behandelter bzw. zu spät erkannter Paukenergüsse ist nicht mehr nachholbar und kann zu einer bleibenden Beeinträchtigung führen.

Liegt es daran, dass diese Behinderung nicht gefühlt sichtbar ist, man die Lippenspalte nur als kosmetisches Problem betrachtet? Ist diese korrigiert, sei alles in Ordnung?

Oft habe ich auch das Gefühl, dass diese Problematik herunter gespielt wird, weil das betroffene Baby es als solche in der gravierenden Ausgangslage nicht mehr in Erinnerung behält. Sind Babys in ihren Leiden und Schwierigkeiten weniger ernst zu nehmen als Erwachsene? Es ist schlichtweg falsch anzunehmen, es sei für Babys harmlos, weil nichts im späteren Bewusstsein davon wieder zu finden ist.

Wie kann man bei dieser massiven Form der Beeinträchtigung so unachtsam damit umgehen? Ja, es ist eine Behinderung, die sich mit Hilfe der heutigen Medizin über einige Jahre dann doch größtenteils beheben lässt. Zum Glück… Aber einige Jahre und insbesondere die ersten ist doch der kleine Mensch stark davon betroffen und muss vieles über sich ergehen lassen. Der kleine Mensch muss Schmerzen und Ängste ertragen, die wir uns nicht vorstellen können.

Ängste nach einer OP, die die Atmung plötzlich wieder zur Umkoordinierung zwingt, die die Nahrungsaufnahme anfänglich kaum möglich macht. Wie soll ein so kleines Wesen begreifen, dass es nur temporär ist? Ebenso, auch weiterführend im Leben, wenn man mit einer Lippen – Kiefer – Gaumenspalte geboren wurde, kann es zu Problemen kommen. Oft werden junge Erwachsene erneut an der Nase und deren Innenleben operiert, da die Atmung nicht ausreichend ist. Dies zeigt sich oft durch schnelle Erschöpfung bei Anstrengung oder Sport.

Ob Logopädie jegliche Sprachprobleme in den Griff bekommt, ist auch nicht gesagt, wenn beispielsweise das operierte Gaumensegel nicht hinreichend funktioniert.

Die Operationen sind massivste Eingriffe und für uns gesunde Menschen nicht ansatzweise im Körpergefühl zu verstehen.

Wenn es gut läuft, kann sich diese Behinderung nach drei Operationen und Logopädie zu keiner Behinderung entwickeln… Aber ebenso können mehr Operationen notwendig werden, welche immer wieder in das Leben des Babys, Kleinkinds, Kindes, Teenagers und jungen Erwachsenen eingreifen und es beschränken.

Kinder, die gehbehindert, taub oder blind zur Welt kommen oder geistig behindert-oder sie werden mit einer chronischen Erkrankung wie Diabetes geboren, ist der akute Zustand der, mit dem sie lernen umzugehen und aufwachsen.  Aber das gibt gesunden Menschen nicht das Recht ihre Beeinträchtigung als weniger schlimm darzustellen. Und wenn diesen kleinen Menschen auch noch immer wieder Schmerz und Stress durch Operationen, auch wenn diese zur Besserung führen, zugemutet werden, hat man von keinem Bagatell zu reden. Die Betroffenen, auch wenn sie damit aufwachsen, merken spätestens, wenn sie in der Gesellschaft ankommen, dass sie eben nicht ankommen, da man sie nicht lässt.

Ein Rollstuhlfahrer, der noch immer nicht in das Rathaus kommt, da es nur mit einer Treppe zu betreten ist. Ein geistig eingeschränkter Mensch, welcher von „gesunden“ separiert wird, sei es in der Schulform oder später im Berufsleben.

Diabetes kranke Menschen/Kinder, die stets Ernährung und Aktivitäten unter Beobachtung halten, Insulin auf welche Art auch immer bei sich führen müssen. Das alles sind gravierende Einschränkungen im Alltag – immer – und für einen gesunden Menschen nicht nachvollziehbar.

Menschen, die so stark beeinträchtigt sind, dass sie stetige Hilfe im Alltag benötigen, in einer Einrichtung untergebracht sind, ihnen dort aber Sex verwehrt wird, sie nicht teilnehmen dürfen an einem selbstbestimmten Leben.

Ein bedingungsloses Grundeinkommen würde auch hier eine Wertschätzung aller zur Folge haben ohne Stigmatisierung. Aber meine Ausführungen diesbezüglich würden jetzt zu weit führen.

Meine Gedankenführung ist laienhaft. Oft habe ich mich mit dem Thema noch nicht auseinander gesetzt. Aber ich tue es und andere sollten dies auch, bevor sie beginnen zu werten und zu bagatellisieren. Im Alltag begegnen mir selten bis gar nicht Menschen mit einer Beeinträchtigung. Durch mein Arbeitsfeld habe ich jedoch mit psychisch kranken Menschen zu tun, -seelisch behinderten- laut dem Gesetz.

Wir gesunden Menschen dürfen uns nicht anmaßen zu werten, welche Beeinträchtigung schwerer wiegt als eine andere, mit welcher chronischen Erkrankung es sich einfacher leben lässt als mit einer anderen. Von unserem Standpunkt heraus ist es einfach mit alltäglichen Barrieren umzugehen. Menschen mit einer Beeinträchtigung -egal welcher Art- hingegen müssen immer mehr Aufwand betreiben, um in unserer Gesellschaft zurecht zukommen. Sei es physische Hindernisse zu überwinden, ihr Seelenleben zu sortieren, Krankheiten und deren Auswirkungen zu managen,  intellektuelle Ansprüche der Gesellschaft oder einfach nur  ihren Alltag mit ihrer Beeinträchtigung ob Behinderung oder Erkrankung zu bewältigen.

 

3 Gedanken zu “Bagatellisierung

  1. Das sehe ich ähnlich. Wir hören auch ständig „Ach, das kann man ja heut gut behandeln“. Ja, kann man. Aber es ist ein langer Weg und mit etlichen Operationen verbunden. Und dann ist nicht sicher, ob die Sprache sich gut entwickelt. Viele meinen ja auch, dass man „das“ später gar nicht mehr sieht. Das ist erstens bei den wenigsten der Fall und außerdem finde ich es viel wichtiger, dass mein Sohn richtig sprechen lernt sowie essen und atmen kann. Also ja, es wird auf jeden Fall bagatellisiert.

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